Monday 17 May 2010

Ungeschriebene Gesetze

Die am besten befolgten Gesetze sind die ungeschriebenen. Kein langwieriger demokratischer parlamentarischer Prozess geht ihnen voraus. Kein umständliches, mitunter nervenaufreibendes Ringen um Kompromissformeln prägt ihre Entstehung. Keine Abstimmung von Volksvertretern liegt ihnen zugrunde.
Stattdessen sind sie glasklar und stehen für sich selbst. Statt einer Dialektik des Wortes folgen sie einer Dialektik der Tat. Denn Taten untermauern ihre Gültigkeit. Und jeder weiß, oder sollte doch zumindest wissen, welche Taten einem Überschreiten der ungeschriebenen Gesetze folgen.
Auch die Umsetzung der ungeschriebenen Gesetze folgt einem klaren Schema. Es braucht hier keine Trennung von Exekutive und Judikative. Der Vollstrecker ist zugleich Häscher, Richter und Henker.
Das macht den Prozessverlauf schneller und erhöht die abschreckende Wirkung. Wie sagte ein kluger Mann: Der Zweck heiligt die Mittel. Denn je mehr Menschen den Kontext der ungeschriebenen Gesetze kennen, desto weniger Verstöße gibt es und, natürlicherweise, desto weniger Opfer. So wohnt dem Ganzen eine besondere Logik und Stringenz inne, die potentielle Gesetzesbrecher gleichsam automatisch an die Spielregeln erinnert.

Beispiele? Nehmen wir etwa den schwedischen Künstler Lars Vilks, der kürzlich von einer aufgebrachten Meute daran gehindert wurde, eine Veranstaltung wie geplant durchzuführen. Wenn man sich die Videos dieser bizarren Szene ansieht, dann wird klar, dass Vilks ohne Polizeischutz heute eine toter Mann wäre. Und natürlich würden die Täter sagen, dass das Opfer schuld ist. Und natürlich würden die Medien dazu schweigen oder allenfalls sagen, dass die Täter die eigentlichen Opfer sind und dass Vilks sich seine Misere selbst zuzuschreiben hat. Und natürlich würden die maßgebenden Politiker mit einem feinen Schweigen die Sache zur Kenntnis nehmen und nicht den Mund aufmachen, um elementarste Grundrechte demokratischer Bürger zu verteidigen, aus Angst davor Wählerstimmen zu verlieren. Denn Vilks ist nur einer und die Meute sind viele.

Wohin soll das führen? Aus einer anderen Stadt in Schweden, Malmö, ziehen die ansässigen Juden ab, denn sie sind wenige. Und jene, die ihnen das Leben zur Hölle machen, ja vielleicht sogar ihnen nach dem Leben trachten, sind viele. Viele Wählerstimmen. Große Familien, Clans. Untereinander verbunden durch besondere Bande. Da muss man schon Rücksicht nehmen, wenn man wiedergewählt werden will. Und sind die Juden erst mal weg, kann man umso ungenierter dem politisch inspirierten Antisemitismus frönen. Denn Israel ist weit weg, und wenn es eines Tages von einer Atombombe weggeblasen würde, dann käme der Fallout ganz bestimmt nicht bis nach Malmö. Und außerdem wäre ja Israel selber schuld. Wer sonst?

So sind es also die ungeschriebenen Gesetze, die in keinem Gesetzbuch eines demokratischen Staates kodifiziert sind, die Fakten schaffen. Durch Einschüchterung oder, wenn es sein muss, durch tätliches Vorgehen. Da hilft es auch nicht, wenn der eine oder andere zu weit geht und ins Gefängnis wandert, weil er das ungeschriebene Gesetz mit mörderischer Konsequenz umgesetzt hat. Denn an seine Stelle treten andere. Viele andere und ebenso entschlossene.

Die alte Grundregel, dass in einem zivilisierten Gemeinwesen alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist, gilt nicht mehr. Es sind viele Dinge nicht mehr möglich, obwohl sie eigentlich erlaubt wären. Die ungeschiebenen Gesetze sorgen dafür.

Bleibt nur noch eine Frage: Wären die Medien und ihre Politiker auch so schweigsam, wenn Lars Vilks von, sagen wir, Rechtsradikalen, Neonazis oder Skinheads mit dem Tod bedroht würde? Aber dafür haben wir ja Lichterketten.

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